INTERVIEW

Arzt-Depesche 1/2017

Big Data, die sektorale Trennung und der Leuchtturm für klinische Forschung

Arzt Depesche Onkologie: Blicken wir in die Vergangenheit der Onkologie. Welches waren aus Ihrer Sicht die größten medizinischen Fortschritte der letzten zehn Jahre?

Prof. Dr. med. Michael Hallek Direktor der Klinik I für Innere Medizin an der Uniklinik Köln:
 
Da steht für mich ganz klar die Einführung der neuen Immuntherapeutika wie Checkpoint-Inhibitoren und CAR-T-Zellen an erster Stelle. Die Immuntherapie nutzt die Fähigkeit des Organismus, den Tumor selbst zu attackieren. Sie wird wahrscheinlich bei allen Krebsarten eine Rolle spielen. Insbesondere aber Patienten mit Neoplasien mit genetischer Instabilität und hoher Mutationsrate könnten davon profitieren. Bei der CAR-T-Zell-Therapie werden körpereigene Abwehrzellen extrakorporal genetisch modifiziert und re-infundiert. Diese Therapieprinzipien haben bereits heute die Behandlung revolutioniert.
 
Was hat sich aus gesundheitspolitischer Sicht in der Onkologie getan?
In Deutschland war eine der wichtigsten Errungenschaften sicherlich die Einführung und der Erfolg der onkologischen Spitzenzentren, die eine bis dahin beispiellose Entwicklung eingeleitet haben. Sie ermöglichen eine in Zentren vernetzte und mit Outreachprogrammen versehene Versorgung von Krebspatienten. Ich denke, dass durch diese Bewegung wirklich Fortschritt in Richtung einer neuen, auf Zusammenarbeit orientierten Art der Krebsbehandlung erzielt werden konnte.
 
Zur Gegenwart: Welche war für Sie die wichtigste onkologische Studie in letzter Zeit?
Besonders interessant finde ich die Studie von Reck et al., die Pembrolizumab bei PD-L1-positivem NSCLC mit platinbasierter Chemotherapie verglich. Man sah ein signifikant längeres progressionsfreies Überleben und Gesamtüberleben mit dem gegen PD-1 gerichteten Antikörper – bei weniger unerwünschten Ereignissen.
 
Wo sehen Sie Optimierungsbedarf in Bezug auf die Abstimmung zwischen stationärer und ambulanter onkologischer Therapie?
Zum einen bedarf es eines freien Austausches aller Daten ohne Barrieren. Die Digitalisierung und die Behandlung von großen Datenmengen (Big Data) über Sektorengrenzen hinweg haben eine entscheidende Bedeutung in der Onkologie. Ein weiterer, für mich wichtiger Punkt ist die zukünftige Notwendigkeit, die sektoralen Grenzen zu schleifen, um so die stationäre und ambulante Therapie enger und besser koordinieren zu können. Die heute bestehende sektorale Trennung ist meiner Ansicht nach hinderlich, weil sie unnötige Zuständigkeitskonflikte provoziert. Der Hausarzt sollte in der Onkologie, wie sonst auch, die initiale Verdachtsdiagnose stellen. Angesichts der Komplexität von Diagnoseschritten ist dann allerdings schnell der Spezialist gefragt. Die Therapiedurchführung und die Nachbetreuung können dezentral erfolgen.
 
Wie hat sich der Stellenwert der onkologischen Früherkennung in den vergangenen Jahren verändert?
Insbesondere die Koloskopie zur Darmkrebsvorsorge bzw. Früherkennung halte ich für eine sehr sinnvolle Maßnahme. Alle anderen Verfahren sind nach neuerer Publikationslage nicht mehr so stark gesichert, wie es früher den Anschein hatte. Eine weitere Erkenntnis ist, dass der Lebensstil aber wahrscheinlich eine sehr wichtige Rolle bei der Krebsentstehung spielt – hierzu gibt es immer mehr Daten. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass die gleichen Faktoren, die bei der Prävention von Herz- und Kreislauferkrankungen relevant sind, auch in der Krebsentstehung wichtig sind, z. B. Rauchen, Übergewicht, Bewegungsmangel und bei bestimmten gastrointestinalen Malignomen die Ernährung.
 
Was ist die größte zukünftige Herausforderung in der Onkologie?
Jeder Patient mit Krebs muss das derzeit verfügbare Wissen und die daraus folgenden Therapeutika zur Verfügung gestellt bekommen. Über die Finanzierung muss letztlich die Politik mit der Industrie verhandeln. Wir müssen sicherstellen, dass alle Patienten die optimale Therapie erhalten, unabhängig von Einkommen, Bildungsstatus oder ihrer Versicherung.
 
Für welche Themen in der Onkologie wünschen Sie sich mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, in der Politik und bei Patienten?
Ich wünsche mir, dass die psychoonkologischen Leistungen in die Regelversorgung übernommen und damit vollumfänglich vergütet werden. Ich wünsche mir außerdem, dass wir in Europa durch politische Unterstützung zu einem Leuchtturm für die klinische Forschung in der Onkologie werden. Dies müssen wir aus Gründen der kritischen Evaluation neuer Therapeutika ohnehin tun. Handlungsbedarf besteht zudem darin, dass wir das Fachgebiet der medizinischen Onkologie innerhalb unserer Gesellschaft, der DGHO, weiter vorantreiben und klar stellen, dass die medizinischen Onkologen in Krankenhaus und Praxis einen wesentlichen Beitrag dazu leisten.
 
Welchen Beitrag kann die Jahrestagung der DGHO leisten?
Besonderes Merkmal des DGHO-Kongresses ist die sehr stark forschungsorientierte Debatte von neuen Therapie- und Diagnoseverfahren. Außerdem ist es in den letzten Jahren gelungen, auch den Nachwuchs wieder verstärkt in diesen Kongress zu integrieren. Ich wünsche mir, dass der Kongress eine besonders positive Ab- und Ausstrahlung auf junge Ärzte ausübt.
 
Das Interview führte Dr. med. Christian Bruer

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